Wie geplant wechselte ich regelmäßig zwischen Foto- und Videomodus meiner Canon 5D III und schnell zeichnete sich ab, dass der häufige Wechsel zu einer Geduldsprobe werden könnte. So musste ich bei jedem Moduswechsel den Shutter anpassen, der bei Videoaufnahmen in der Regel bei 1/50s lag und für scharfe Fotoaufnahmen deutlich von mir reduziert wurde. Zudem musste regelmäßig der ND-Filter gewechselt werden, um entweder eine offene Blende im Videomodus zu erzielen oder um um einen geringen Shutter-Wert im Fotomodus zu erreichen. Trotz des ständigen Umstellens mochte ich mein flexibles 5D III-Setup.
In Zallissya kam unser Geigerzähler noch gar nicht zum Einsatz. Bei unseren Tests konnten wir lediglich normale Werte messen. Das änderte sich jedoch, als wir zum Kopachi Kindergarten weiterfuhren, der nur sieben Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt zu finden war. Um zu diesem zu gelangen mussten wir zunächst einen weiteren Checkpoint durchfahren, der die 10-Kilometer-Sperrzone eingrenzte. Direkt vor dem Kindergarten empfahl uns Helga eine unauffällige Stelle im Gras mit unserem Geigerzähler zu messen. Gesagt getan und innerhalb von Sekunden setzte das bekannte Ticken ein, das sich schnell zu einem fiesen Alarmton steigerte. Mit über neun Microsievert/h war die Radioaktivität an dieser Stelle rund 35-fach erhöht und nach einer kurzen Videoaufnahme der Zahl zog ich meine Hand schnell zurück. Mit ein bis zwei Microsievert/h war das kurze Waldstück zum Kindergarten ebenfalls leicht kontaminiert, was sicherlich mit der Nähe zum Kraftwerk zu erklären war. Innerhalb des Kindergartens bot sich uns ein befremdliches Bild. Neben verstaubten Spielsachen waren immer wieder schaurig aussehende Puppen zu sehen, die meist ordentlich positioniert auf Betten und Stühlen standen. Uns war klar, dass vermutlich übereifrige Fotografen hier ihre Hände im Spiel hatten, trotzdem lösten die Motive ein unbehagliches Gefühl bei uns aus.
Im Inneren des Atomkraftwerk Tschernobyl
Direkt nach dem Besuch des Kindergartens sollte bereits das Highlight des gesamten Trips stattfinden. Wie Helga uns morgens überraschend mitteilte stand an unserem ersten Tag um 11 Uhr unser Besuch im Atomkraftwerk an. Dazu fuhren wir vom Kindergarten noch einige Kilometer weiter und tatsächlich erhob sich direkt vor uns in einiger Entfernung der weltbekannte Sarkophag, der sich über Reaktorblock vier erstreckte. Mit einer Länge von 162 Metern und einer Höhe von 108 Metern handelt es sich dabei um das größte bewegliche Bauwerk der Welt, denn der New Safe Confinement, so der offizielle Begriff, wurde rund 180 Meter entfernt von Reaktor vier aufgebaut, da die Strahlung direkt vor Ort zu hoch gewesen wäre. Schließlich erreichten wir das Außengelände des AKWs und parkten nur wenige hundert Meter von dem Unglücksreaktor entfernt. Helga übergab uns an die Kraftwerksmitarbeiterin Julia, die uns die nächsten Stunden durch das Gebäude führen sollte. Bevor wir jedoch das Kernkraftwerk betreten durften, erhielten wir eine Sicherheitsunterführung durch einen Mitarbeiter auf ukrainisch, die von Julia auf englisch übersetzt wurde. Dazu gab es auch den dezenten Hinweis, dass bei Regelverstößen unsere jeweilige Botschaft informiert würde. Mit nun doch leichter Nervosität, immerhin stand der Besuch schon länger auf meiner Bucket List, betraten wir das AKW und gingen zunächst durch mehrere Sicherheitskontrollen, um anschließend den Bunker unterhalb des Gebäudes zu besichtigen. Hier zeigte Julia zunächst verschiedene Maschinenräume bis wir schließlich einen Konferenzraum betraten, in dem bei einem Anstieg der Radioaktivität auf dem Gelände der Krisenstab agieren würde. Interessanterweise war weder vor dem Kraftwerk noch innerhalb des Bunkers eine erhöhte Strahlung festzustellen.
Anschließend legten wir die typische weiße Mitarbeiterkleidung an, die so etwa auch in der HBO-Serie Chernobyl zu sehen ist, und uns in Kombination mit der Mittagshitze und unserer ohnehin schon langen Kleidung ordentlich Schweiß auf die Stirn trieb. Das Kraftwerk ist auch im Jahre 2019 nicht etwa verlassen, wie viele vermuten. Tatsächlich arbeiten laut Julia rund 2.000 Menschen im AKW, die sich um den Rückbau kümmern, als Sicherheitsleute angestellt sind oder die vor Ort befindliche Technik bedienen. So kamen uns immer wieder kleine Menschengruppen in weißer Kleidung entgegen, als wir den sogenannten goldenen Korridor durchquerten. Dabei handelt es sich um einen langen, geraden Gang, der immer wieder zu verschiedenen Kontrollräumen abzweigt. Tatsächlich bewegten wir uns immer weiter auf den havarierten Reaktorblock zu. Bis auf wenige Ausreißer maßen wir weiterhin normale bis leicht erhöhte Strahlenwerte. Besonders interessant war ein kurzer Abstecher in den Kontrollraum von Reaktor drei, der dem von Reaktor vier stark ähnelt. Hier fasste Julia noch einmal in aller Ausführlichkeit zusammen, wie es zu dem Unglück damals kommen konnte.