„Allen elf Fingern geht's strahlend!“ So lautet derzeit meine leicht ironische Standard-Antwort auf die Frage, ob ich denn meinen Tschernobyl-Trip gut überstanden hätte. Seit einigen Wochen sind wir nun wieder aus der Ukraine zurück und zumindest ich verarbeite noch immer das Gesehene und Erlebte – denn die Erwartungen wurden nicht nur erfüllt, sondern regelrecht übertroffen.
Wir reisen nach Tschernobyl
Bereits in einem früheren Blog-Eintrag berichtete ich über unsere Vorbereitungen und über die Auswahl unserer Technik für unseren Aufenthalt in der Sperrzone von Tschernobyl. Am 01. September ging es dann schließlich für mich und meinen ebenfalls Tschernobyl-interessierten Kollegen Jonas mit einer Ukraine Airlines-Maschine los in Richtung Kiew. Nach rund zweieinhalb Stunden Flug und einer kurzen Busfahrt erreichten wir unser Hotel direkt neben dem Kiewer Hauptbahnhof. Noch beim Check-In teilte uns die Dame an der Rezeption neben Frühstück- und Check-Out-Zeiten mit, dass es auch möglich sei, kurzfristig eine Reise nach Tschernobyl für uns zu organisieren. Offenbar gehörte ein solcher Tagestrip schlicht zum normalen Tourismus-Programm in Kiew dazu. Wir hofften jedoch, dass unsere bereits gebuchte Privat-Tour am nächsten Tag problemlos beginnen würde und wir nicht auf kurzfristige Angebote angewiesen sein würden – und so war es auch! Nach einer entspannten Nacht im Herzen von Kiew fuhr am Morgen pünktlich um 7.30 Uhr ein Van vor und unsere Reiseführerin Helga sprang heraus und begrüßte uns, entgegen unserer Erwartung, auf deutsch mit einem angenehmen ukrainischen Akzent. Zudem hatten wir einen eigenen Fahrer, sodass wir entspannt die rund zwei Stunden Fahrt in Richtung Speerzone antreten konnten. 
Die ukrainische Landschaft während der 138 Kilometer langen Strecke war eher unspektakulär und von kleineren Dörfern, Wäldern und langen Wiesen durchzogen. Während der Fahrt löste ich erstmals die Canon 5D Mark III aus und musste bereits anfangen mich zurückzuhalten – 18 Minuten Aufnahmezeit pro Tag sind schnell erreicht. Während der Fahrt erklärte uns Helga zahlreiche Dinge über die Zone – dank unserer Vorbereitung war aber nur wenig Neues für uns dabei. Schließlich erreichten wir den 30 Kilometer-Checkpoint, der uns in die äußere Sperrzone führen sollte. Doch zunächst wurden unsere Reisepässe penibel genau vom ukrainischen Militär kontrolliert und wir mussten unterschreiben, dass wir die Zone auf eigene Gefahr betreten, während Helga uns in der Sperrzone anmeldete. Interessanterweise befanden sich noch vor dem Eingang zwei kleine Läden mit Souvenirs. Wir nutzten die Zeit und schauten uns das Sortiment aus Tassen, bedruckter Kleidung etc. an, fanden es aber etwas makaber, Souvenirs zu erwerben.

Ein verlassenes Bauernhaus in dem Dorf Zallissya, rund 25 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt. Die meisten Gebäude waren in einem deutlich schlechteren Zustand.

Nach einigen Minuten kehrte Helga zurück und überreichte uns zwei Anhänger, die wir von nun an ständig bei uns tragen sollten. Diese zeichneten während unseres gesamten Aufenthalts die aufgenommene Strahlung auf, damit Wissenschaftler etc. aktuelle Messwerte erhalten. Wir verstanden zwar den Sinn und Zweck, fühlten uns aber trotzdem ein wenig wie Versuchskaninchen mit diesen Anhängern durch das verstrahlte Gebiet zu laufen. Filmen war an den Checkpoints generell untersagt, weshalb wir unsere Kameras leider im Halfter lassen mussten und erst nach dem Betreten der Zone weiterdrehen konnten. Während der Weiterfahrt überreichte uns Helga unsere Geigerzähler mit dem Hinweis, dass es sich bis 0,3 Microsievert/h um Normalwerte handelt. Zudem realisierten wir, dass uns ein wirklicher heißer Tag bevorstand. Sehr gute Wetteraussichten passten eher weniger zu unserer Kleidung, immerhin durften wir ausschließlich lange Kleidungsstücke tragen.
Die ersten Schritte in der Sperrzone
Unser erstes Ziel stellte das verlassene Dorf Zallissya dar, in dem bis kurz nach dem Unglück im April 1986 etwa 3.200 Menschen gelebt haben. Heute sind alle Häuser leerstehend und verfallen – obwohl es stolze 25 Kilometer vom AKW Tschernobyl entfernt liegt. Hier machten wir unseren ersten Stop und betraten einen Wald. Wir waren erstaunt, wie stark sich die Natur das Dorf in nur 33 Jahren zurückerobert hatte. Über einen kleinen Waldweg, der damals eine von Autos befahrene Straße gewesen war, erreichten wir die ersten Häuser, die verborgen hinter einigen Bäumen standen. Im Vorfeld der Reise war ich mir unsicher gewesen, ob uns unser Guide die Häuser überhaupt betreten lässt. Scheinbar stellte das Betreten aber kein Problem für Helga dar. Sie kannte sich augenscheinlich sehr gut aus und erklärte uns, welche Gebäude betreten werden können und bei welchen die Einsturzgefahr zu groß sei. Mir war klar, dass unsere 24-jähriger Reiseführerin mit einer Ausbildung im Tourismus vermutlich nicht in der Lage war einzuschätzen, welches Gebäude wann genau einstürzen wird, aber ein wenig Abenteuer und Glück gehörten bei einer Tour durch das Unglücksgebiet vermutlich einfach dazu. So betraten wir zahlreiche alte Bauernhäuser – Highlight war jedoch der Kulturpalast, eine Art Rathaus. Ähnlich wie griechische Bauwerke arbeiteten die Erbauer bei diesem Gebäude mit mächtigen Säulen, wodurch der Kulturpalast deutlich zwischen den Bäumen hervorragte. Während der Erkundung erzählte Helge über das Dorf und das damalige Leben der Einwohner und beantwortete bereitwillig unsere Fragen. Dank der Privat-Tour hatten wir ausreichend Zeit das Dorf zu erkunden und in Ruhe unsere Bilder zu sammeln. 

Stück für Stück holt sich die Natur Häuser, Autos und ganze Straßenzüge zurück. Um die Dörfer sind inzwischen ganze Wälder gewachsen.

Wie geplant wechselte ich regelmäßig zwischen Foto- und Videomodus meiner Canon 5D III und schnell zeichnete sich ab, dass der häufige Wechsel zu einer Geduldsprobe werden könnte. So musste ich bei jedem Moduswechsel den Shutter anpassen, der bei Videoaufnahmen in der Regel bei 1/50s lag und für scharfe Fotoaufnahmen deutlich von mir reduziert wurde. Zudem musste regelmäßig der ND-Filter gewechselt werden, um entweder eine offene Blende im Videomodus zu erzielen oder um um einen geringen Shutter-Wert im Fotomodus zu erreichen. Trotz des ständigen Umstellens mochte ich mein flexibles 5D III-Setup.
In Zallissya kam unser Geigerzähler noch gar nicht zum Einsatz. Bei unseren Tests konnten wir lediglich normale Werte messen. Das änderte sich jedoch, als wir zum Kopachi Kindergarten weiterfuhren, der nur sieben Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt zu finden war. Um zu diesem zu gelangen mussten wir zunächst einen weiteren Checkpoint durchfahren, der die 10-Kilometer-Sperrzone eingrenzte. Direkt vor dem Kindergarten empfahl uns Helga eine unauffällige Stelle im Gras mit unserem Geigerzähler zu messen. Gesagt getan und innerhalb von Sekunden setzte das bekannte Ticken ein, das sich schnell zu einem fiesen Alarmton steigerte. Mit über neun Microsievert/h war die Radioaktivität an dieser Stelle rund 35-fach erhöht und nach einer kurzen Videoaufnahme der Zahl zog ich meine Hand schnell zurück. Mit ein bis zwei Microsievert/h war das kurze Waldstück zum Kindergarten ebenfalls leicht kontaminiert, was sicherlich mit der Nähe zum Kraftwerk zu erklären war. Innerhalb des Kindergartens bot sich uns ein befremdliches Bild. Neben verstaubten Spielsachen waren immer wieder schaurig aussehende Puppen zu sehen, die meist ordentlich positioniert auf Betten und Stühlen standen. Uns war klar, dass vermutlich übereifrige Fotografen hier ihre Hände im Spiel hatten, trotzdem lösten die Motive ein unbehagliches Gefühl bei uns aus.
Im Inneren des Atomkraftwerk Tschernobyl
Direkt nach dem Besuch des Kindergartens sollte bereits das Highlight des gesamten Trips stattfinden. Wie Helga uns morgens überraschend mitteilte stand an unserem ersten Tag um 11 Uhr unser Besuch im Atomkraftwerk an. Dazu fuhren wir vom Kindergarten noch einige Kilometer weiter und tatsächlich erhob sich direkt vor uns in einiger Entfernung der weltbekannte Sarkophag, der sich über Reaktorblock vier erstreckte. Mit einer Länge von 162 Metern und einer Höhe von 108 Metern handelt es sich dabei um das größte bewegliche Bauwerk der Welt, denn der New Safe Confinement, so der offizielle Begriff, wurde rund 180 Meter entfernt von Reaktor vier aufgebaut, da die Strahlung direkt vor Ort zu hoch gewesen wäre. Schließlich erreichten wir das Außengelände des AKWs und parkten nur wenige hundert Meter von dem Unglücksreaktor entfernt. Helga übergab uns an die Kraftwerksmitarbeiterin Julia, die uns die nächsten Stunden durch das Gebäude führen sollte. Bevor wir jedoch das Kernkraftwerk betreten durften, erhielten wir eine Sicherheitsunterführung durch einen Mitarbeiter auf ukrainisch, die von Julia auf englisch übersetzt wurde. Dazu gab es auch den dezenten Hinweis, dass bei Regelverstößen unsere jeweilige Botschaft informiert würde. Mit nun doch leichter Nervosität, immerhin stand der Besuch schon länger auf meiner Bucket List, betraten wir das AKW und gingen zunächst durch mehrere Sicherheitskontrollen, um anschließend den Bunker unterhalb des Gebäudes zu besichtigen. Hier zeigte Julia zunächst verschiedene Maschinenräume bis wir schließlich einen Konferenzraum betraten, in dem bei einem Anstieg der Radioaktivität auf dem Gelände der Krisenstab agieren würde. Interessanterweise war weder vor dem Kraftwerk noch innerhalb des Bunkers eine erhöhte Strahlung festzustellen.
Anschließend legten wir die typische weiße Mitarbeiterkleidung an, die so etwa auch in der HBO-Serie Chernobyl zu sehen ist, und uns in Kombination mit der Mittagshitze und unserer ohnehin schon langen Kleidung ordentlich Schweiß auf die Stirn trieb. Das Kraftwerk ist auch im Jahre 2019 nicht etwa verlassen, wie viele vermuten. Tatsächlich arbeiten laut Julia rund 2.000 Menschen im AKW, die sich um den Rückbau kümmern, als Sicherheitsleute angestellt sind oder die vor Ort befindliche Technik bedienen. So kamen uns immer wieder kleine Menschengruppen in weißer Kleidung entgegen, als wir den sogenannten goldenen Korridor durchquerten.  Dabei handelt es sich um einen langen, geraden Gang, der immer wieder zu verschiedenen Kontrollräumen abzweigt. Tatsächlich bewegten wir uns immer weiter auf den havarierten Reaktorblock zu. Bis auf wenige Ausreißer maßen wir weiterhin normale bis leicht erhöhte Strahlenwerte. Besonders interessant war ein kurzer Abstecher in den Kontrollraum von Reaktor drei, der dem von Reaktor vier stark ähnelt. Hier fasste Julia noch einmal in aller Ausführlichkeit zusammen, wie es zu dem Unglück damals kommen konnte.

Im Atomkraftwerk Tschernobyl durften wir uns ab einem gewissen Punkt nur noch mit Mundschutz bewegen. Zum Teil war es schwierig Kraftwerksmitarbeiterin Julia zuzuhören, da das Piepsen des Geigerzählers unsere Aufmerksamkeit auf sich zog.

Dann kam der Moment, den ich vermutlich für den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. „Zieht nun bitte Mundschutz und Handschuhe an. Wir betreten nun einen kontaminierten Bereich und bewegen uns deshalb etwas schneller.“ Tatsächlich legte Julia einen ordentlichen Zahn zu und wir näherten uns einem Bereich, der deutlich baufälliger wirkte – auch Mitarbeiter des Kraftwerks kamen uns nun keine mehr entgegen. Mit einem Fingerzeig gestikulierte Julia auf eine vor uns liegende Türe. Dort hinter befände sich der Zugang zu Reaktor vier. Hier machte sich nun auch der Geigerzähler stärker bemerkbar und das Ticken wurde immer intensiver. Die vor uns liegende Türe betraten wir nicht – vielleicht besser so - stattdessen nutzten wir einen Quergang. Ab diesem Moment hörte unser Geigerzähler auf zu ticken und das dröhnende Piepsen, ähnlich dem beim Kindergarten-Hotspot, begann und hielt die kommenden Minuten an. Zwischen fünf bis zehn Microsievert/h zeigte das Gerät nun durchgehend an. An einer Mauer mit Gedenkstätte hielt Julia an und erklärte unter anderem, dass hinter dieser Mauer Reaktor vier läge. Wir hörten nur mit einem Ohr zu und auch unser Blick wanderte immer wieder nervös zum weiterhin piepsenden Geigerzähler. 
Man sieht sie nicht, man spürt sie nicht - und doch ist sie da
Nach einigen Minuten zogen wir weiter und die Wände wurden immer kahler und ungepflegter. Schließlich erreichten wir einen besonders großen Raum mit den Kühlsystemen der einzelnen Reaktorblöcke. Hier stieg die Strahlendosis nochmals an und erreichte erstmals zweistellige Microsievert-Werte/h. Bei mir persönlich machte sich ein seltsames Gefühl breit und spätestens hier realisierte ich, wie gefährlich Strahlung wirklich ist. Auch wenn uns die hier gemessene Dosis für den kurzen Aufenthalt kaum bis gar nicht zusetzt, so ist es doch seltsam zu wissen, dass diese weder gesehen, gerochen noch durch andere Sinne wahrgenommen werden kann. Es muss ein furchtbares Gefühl gewesen sein, damals an diesem Ort gewesen zu sein und zunächst gar nicht gewusst zu haben, wie stark die Kontaminierung tatsächlich ist, bis erste richtige Messungen durchgeführt wurden.
Julia erlaubte uns nur einen kurzen Aufenthalt bei den Kühlsystemen und mit einem leicht besorgt klingenden „Okay, let us go now“ zogen wir weiter und verließen den kontaminierten Bereich des AKWs. Wir zogen unsere Überziehschuhe und Handschuhe aus und warfen diese in vorgesehene Behälter, bevor wir uns auch von der restlichen weißen Kraftwerkskleidung verabschiedeten. Der Aufenthalt im Inneren des AKWs war damit für uns beendet. Zu guter letzt besuchten wir das Besucherzentrum, das direkt vor dem New Safe Confinement errichtet wurde. Hier erklärte Julia noch einmal anhand eines Models den Ablauf des Unglücks und beschrieb zudem, wie genau der neue Sarkophag errichtet wurde. 

Der New Safe Confinement, der kürzlich errichtete Sarkophag rund um Reaktorblock vier, soll mindestens 100 Jahre lang dafür sorgen, dass keine weitere Strahlung aus dem AKW austreten kann.

Ein verlassener Bahnhof und unvollendete Kühltürme
Nach diesem doch recht exklusiven Einblick in das aktuelle Kraftwerkgeschehen verabschiedeten wir uns von Julia und Helga übernahm erneut die Kontrolle über uns. Natürlich hatten wir auch im Inneren des AKWs unsere Kameras jederzeit griffbereit und hier merkte ich einen großen Nachteil meines Setups. Aufgrund der speicherintensiven Raw-Aufnahmen musste ich mich doch sehr zurückhalten nicht allzu lange Clips aufzuzeichnen. Besonders die O-Töne von Julia hätte ich gerne dokumentarischer und länger aufnehmen wollen, was jedoch schlicht nicht möglich war, weshalb es eher auf Schnittbilder hinaus lief. Hier war ich dankbar für die A6300, die dank stärkerer Kompression auch teils mehrere Minuten am Stück mitlaufen konnte.
Als nächste Station fuhren wir zum Bahnhof Yaniv, etwas westlich des Kraftwerks gelegen. Hier durften wir rund eine Stunde lang die heruntergekommenen Züge sowie das nähere Umland erkunden. Wir wagten uns auch ohne Helgas direkter Begleitung einige Meter weiter weg und entdeckten so etwa eine verlassene Werkstatt abseits des Weges. Hier wurde mir erstmals wirklich bewusst, dass es in dieser riesigen Zone unglaublich viele dieser leerstehenden Gebäude geben musste und nicht nur die wenigen dutzend, die aus Dokus und anderen Berichten bekannt sind. Nach dem Bahnhof machten wir einen Abstecher zu den bekannten Kühltürmen für die Reaktoren fünf und sechs. Allerdings wurden weder die zusätzlichen Reaktoren, noch die dafür geplanten Kühltürme jemals fertiggestellt. Nachdem wir geparkt hatten führte uns Helga durch ein kurzes Waldstück und ermahnte uns ruhig zu sein. Es sei wohl illegal diesen Ort zu betreten und falls wir Polizisten sähen, sollten wir laufen. Jonas und ich tauschten einige Blicke aus, die ein wenig Sorge und Zweifel enthielten – führte uns Helga hier wirklich an eine eigentlich verbotene Stelle? Bis zum Schluss waren wir uns unsicher, ob sie nur versuchte ein wenig zusätzliche Spannung aufzubauen oder ob es wirklich verboten war, hier unterwegs zu sein. Im Nachhinein fand ich keine Info dazu, ob das Betreten dieser Orte, wie beispielsweise die Baustellen der Kühlstürme, tatsächlich verboten war. Ich vermute inzwischen, dass es tatsächlich offiziell nicht erlaubt ist -  die ausführenden Organe vor Ort allerdings keinen großen Wert auf die Einhaltung legen. 
Die Kühltürme liegen nur wenige Kilometer vom AKW entfernt und so konnten wir auch hier erhöhte Strahlenwerte zwischen ein und zwei Microsievert messen. Vor allem der Hall im Kühlturm selbst war einzigartig - jeder Schritt und jedes Wort wurde vielfach lauter zurückgegeben und Helga ermahnte uns möglichst leise zu sein. Auch an späteren Orten wurde wir angehalten ruhig zu sein, um nicht auf uns aufmerksam zu machen, doch meist war das gar nicht notwendig. Die extreme Ruhe und vor allem auch der geschichtsträchtige Ort selbst ließen Jonas und mich sehr ruhig werden und stellenweise kaum noch miteinander sprechen. Und wenn, dann nur mit wenigen Worten in Flüsterlautstärke. Nach dem Kühlturm bewegten wir uns weiter durch die Natur bis sich im Osten ein großer See vor uns auftat. Hier wurden damals Fische gezüchtet – heute ist das natürlich nicht mehr der Fall. Wir besuchten noch weitere Gebäude – unter anderem eine Fellzucht, und fuhren am Ende des Tages zurück Richtung Süden zu der Stadt Chernobyl, die etwa 15 Kilometer vom AKW entfernt innerhalb der 30 Kilometer-Zone liegt.

Die Stadt Chernobyl liegt rund 15 Kilometer im Süden des Atomkraftwerks. Hier lassen sich einige wenige Geschäfte und Übernachtungsmöglichkeiten finden. Die Strahlenwerte liegen auf einem normalen Level.

Hier zeigte uns Helga verschiedene Denkmäler – unter anderem jenes der Feuerwehrmänner, die damals als erste am explodierten Reaktor eingetroffen waren, sowie eine schier endlos lange Straße mit aufgestellten Schildern, auf denen die Ortsnamen der evakuierten Dörfer zu finden sind. Dieser Weg beeindruckte mich besonders, da er zeigte, wie viele Dörfer tatsächlich aufgrund des Unglücks aufgegeben werden mussten. Auch unser Hotel befand sich in Chernobyl, in dem wir die kommenden zwei Nächte verbringen sollten. Wir rechneten im Vorfeld mit dem Schlimmsten, waren dann aber doch positiv überrascht. Neben zwei einfachen Badezimmern auf den Gängen (die Zimmer selbst hatten keine Toilette/Dusche) störte uns in erster Linie nur, dass die Bar bereits um 21 Uhr schloss und ab 22 Uhr Ausgangssperre herrschte. Generell war es uns nicht erlaubt das Hotelgelände zu verlassen und so verbrachten wir den ersten Abend im Zimmer und sicherten unser aufgezeichnetes Material. Unsere erste Nacht in Tschernobyl war dann tatsächlich nicht vollkommen ruhig. Wir beide wachten mehrmals durch lautstark heulende Tiere auf. Zunächst dachten wir tatsächlich es handelt sich um Wölfe, Helga meinte am nächsten Morgen jedoch, es seien nur Hunde. Na, wenn Helga das sagt...
50.000 Menschen lebten hier, nun ist es eine Geisterstadt
Nach einem eireichen Frühstück mit einem undefinierbaren Fruchtgetränk (vermutlich Rhabarber) ging es für uns direkt wieder recht früh los. Mit Helga hatten wir abgesprochen, dass wir an diesem Morgen erstmals Pripjat besuchen und zu Beginn ein vierzehnstöckiges Hochhaus betreten würden. Eigentlich ist es seit 2012 illegal Gebäude in Pripjat zu betreten, doch laut Helga sollten wir es trotzdem wagen, vorzugsweise morgens, wenn noch keine Polizisten in der Stadt unterwegs seien. Zwar hatten Jonas und ich wenig Lust einem ukrainischen Gefängnis einen Besuch abzustatten, doch der Gedanke auf eines der Dächer zu steigen überzeugte uns dann doch, weshalb der Aufstieg von uns gar nicht erst in Frage gestellt wurde. Nach dem Frühstück setzten wir uns also wieder in unseren Van und fuhren zu der verlassenen Arbeiterstadt.
Die 50.000 Einwohner-Stadt wurde erst einige Tage nach dem Unglück evakuiert. Den Einwohnern wurde sogar mitgeteilt, dass sie in Kürze wieder in ihre Wohnungen zurückkehren könnten, weshalb nur das Nötigste mitgenommen wurde. Dem war natürlich nicht so und heute kann Pripjat wohl nur noch als Geisterstadt bezeichnet werden. Um in die Stadt zu gelangen fuhren wir zunächst am sogenannten roten Wald vorbei, über den aufgrund der Windrichtung beim Reaktorunglück besonders viel Strahlung niedergegangen ist. Das merkten wir bereits beim Vorbeifahren, denn unser Geigerzähler meldete sich erneut. Auf Nachfrage teilte uns Helga sehr klar mit, dass das Betreten des roten Waldes verboten sei. Scheinbar war sie nicht heiß darauf, das Gebiet näher zu erkunden. So fuhren wir nur an der Waldgrenze vorbei, passierten einen weiteren Checkpoint und standen auf einmal... in einem Wald. Wir sahen die Stadt wortwörtlich vor lauter Bäumen nicht mehr. Zwar war mir klar, dass Pripjat inzwischen von der Natur zurückerobert worden war, doch das sich um die Hochhäuser ein regelrechter Wald gebildet hatte – damit hatte ich nicht gerechnet. So hatten wir nicht das Gefühl in einer verwilderten Stadt zu stehen, sondern viel mehr in einem Wald, in dem immer wieder riesige Gebäude zum Vorschein kamen. Schließlich fand Helga das gesuchte Hochhaus und schwer atmend erklommen wir Stockwerk für Stockwerk, bis wir schließlich auf dem Dach standen. Uns bot sich ein spektakulärer Anblick. Unter strahlend blauem Himmel konnten wir tatsächlich bis zum mehrere Kilometer entfernt liegendem AKW schauen und ganz im Hintergrund sogar die Radarstation Duga erblicken, die wir am Nachmittag besuchen wollten. Helga bat uns nicht zu nah an die Kanten zu gehen, um nicht gesehen zu werden. Hier fanden wir einige starke Motive und besonders der erstmalige Einsatz des Einhand-Gimbals unter der A6300 überzeugte.

In der Arbeiterstadt Pripjat waren zum Zeitpunkt des Unglücks im Jahre 1986 rund 50.000 Menschen ansässig. Mittlerweile hat die Natur das Gebiet zurückerobert und die Gebäude gelten als einsturzgefährdet.

Nach der Rooftop-Tour erkundeten wir einige der Wohnungen des Hauses, fanden hier allerdings überwiegend leere Räume vor, da diese entweder geplündert oder damals von Liquidatoren ausgeräumt worden waren. Trotzdem war es ein gespenstisches Gefühl über Glasscherben und abgefallenen Putz zu steigen und gleichzeitig zu versuchen möglichst wenig Staub aufzuwirbeln. Tatsächlich konnten wir innerhalb der Gebäude von Pripjat normale Strahlenwerte messen, während diese im Schnitt außerhalb der Häuser bei knapp unter einem Microsievert/h lagen. Nach dem Wohnhaus erkundeten wir das weltbekannte Schwimmbad, das häufig als Mahnmal dient und auch auf uns eine besondere Wirkung ausübte. Generell war die Atmosphäre in Pripjat sehr eigen und kaum in Worte zu fassen. An jenem Ort zu stehen, in dem eine unfassbar große Zahl an Menschen von heute auf morgen ihr komplettes Leben hinter sich lassen musste, ließ auf der einen Seite eine gewisse Faszination aufkommen. Andererseits spürte ich auch einen Anflug von Leere und Hoffnungslosigkeit – Gefühle, die nachdenklich machten und mir zeigten, wie vergänglich das Leben ist und wie schnell die Spuren der Menschheit beseitigt werden können. Außerdem kam in mir die Frage auf, ob es wirklich in Ordnung sei, einen solchen Ort rein aus Interesse und Neugierde zu besuchen. Wir verhielten uns so respektvoll wie möglich, stellten keine Gegenstände für bessere Aufnahmen um und fassten generell nur an, was unbedingt notwendig war.
Eine Zeitreise in die Vergangenheit
Nicht minder interessant war das Schulgebäude, das wir kurze Zeit später betraten. Dieses ließ uns Helga selbst erkunden und auf drei Stockwerken fanden wir unzählige Klassenzimmer vor, die völlig verwüstet waren. Besonders skurril war es, dass auf den Böden meist noch alte Schulbücher lagen, manche sogar aus dem Deutschunterricht. Der erinnerungswürdigste Moment war für mich persönlich ein kurzer Aufenthalt auf dem zugewucherten Innenhof. Nachdem der Geigerzähler in der Schule meist nur ein schwaches Ticken von sich gegeben hat, begann hier ohne Vorwarnung der Warnton auf sich aufmerksam zu machen. Das wiederholte sich auch später immer wieder, sobald wir einen vorgegeben Weg verließen. Das zeigte doch recht klar, dass das Gebiet in seiner Gesamtheit noch immer stark kontaminiert ist und in erster Linie nur Wege und Straßen wirklich sicher sind.
Einen weiteren intensiven Moment erlebte ich an unserer nächsten Station, dem Krankenhaus. Hier wusste ich bereits, dass die Kleidung der Feuerwehrmänner, die damals als erste am AKW geholfen haben, im Keller gelagert wird. Die extrem kontaminierten Anzüge, Handschuhe und Stiefel sorgen dafür, dass der Krankenhauskeller bis heute einen der verstrahltesten Orte in der Sperrzone darstellt. Ein kleiner Fetzen Kleidung lag auf einem Tisch im Eingangsbereich und Helga riet uns einmal unseren Geigerzähler an diesen zu halten. Direkt erhielt ich eine Anzeige von 20 Microsievert/h und hätte sicherlich noch höhere Werte gemessen, doch meine Hand zog ich schnell zurück. Es war faszinierend, dass alleine dieses Stückchen Kleidung mehr Strahlung abgab, als das Kühlsystem innerhalb des Kraftwerks. Doch auch das eigentliche Krankenhaus wirkte mit seinen schaurigen, verlassenen Operationssälen und Untersuchungsräumen auf uns nach und hinterließ einen bleibenden Eindruck.

Das Krankenhaus in Pripjat wirkt mit seinen medizinischen Geräten besonders gespenstisch. Im Keller befindet sich bis heute die Kleidung der Feuerwehrleute, die bereits kurz nach dem Unglück am Kraftwerk eingetroffen sind.

Helga plante uns als nächstes den Hafen der Stadt zu zeigen. Tatsächlich handelte es sich eher um einen einfachen Zugang zum Wasser, richtige Schiffe konnten hier nicht anlegen. Trotzdem war es interessant direkt an dem Fluss Pripjat zu stehen, der der Stadt ihren Namen verleiht. Im Hintergrund sahen wir ein gestrandetes kleines Holzschiff mit eine Länge von vielleicht 20 Metern. Helga las unsere Gedanken und führte uns zu dem heruntergekommenen Flussgefährt. Dieses sah tatsächlich mehr als baufällig aus und hatte bereits ordentlich Schieflage und auch die einzelnen Räume auf dem Schiff wirkten, als wenn diese in Kürze einbrechen würden. Trotzdem wagten wir es das Schiff zu betreten und ich fand überrascht einen Raum vor, in dem leere Konservendosen lagen. Ich fragte Helga danach und sie erwiderte, dass illegale Zonenbesuchter, sogenannte Stalker, hier häufig übernachten. Für mich war es nicht vorstellbar hier eine Nacht zu verbringen. Wir verließen das Schiff und machten uns auf den Rückweg zum Auto. Hier ereignete sich eine erinnerungswürdige Szene, die mir nicht aus dem Kopf geht. Jonas teilte uns mit, dass er sich kurz in die Büsche schlagen müsse – Toiletten gab es in der Zone natürlich nicht. Nach einigen Minuten holte er uns ein und teilte mir etwas unsicher grinsend mit, dass, gerade als er sein Notdurft zu verrichten begann, der Warnton des Geigerzählers erklang und ihn zu etwas mehr Eile antrieb. Geschichten, die wohl nur die Zone schreibt. 
Das Raketenfrühwarnsystem Duga
Nach so viel Einsamkeit und düsteren Gedanken stärkten wir uns zunächst in Chernobyl und fuhren dann mit unserem Nachmittagsprogramm fort. Wir entfernten uns ein Stück vom AKW und bogen in eine unauffällige Seitenstraße innerhalb der 30 Kilometer-Sperrzone ein. Unser Ziel stellte Duga dar, eine mittlerweile verlassene Radarstation, die damals überwiegend als Raketenfrüherkennungssystem diente. Lange Zeit war das Gebiet geheim und auch für die Bewohner von Pripjat nur als Fernsehantenne im entfernten Wald bekannt, doch nach dem Unfall im AKW war die Geheimhaltung nicht länger möglich und das Gebiet musste aufgegeben werden. Als wir Duga nach mehreren Kilometern Fahrt über eine holprige Straßen schließlich erreichten staunten wir nicht schlecht. Das 750 Meter lange und bis zu 150 Meter hohe Stahlkonstrukt war schlicht riesig und schindete mächtig Eindruck. Problematisch war es nur, die gesamte Antenne aufzuzeichnen – dafür waren wir schlicht zu nah dran. Aber als Kölner kannte ich das Problem natürlich schon von unserem Wahrzeichen. Dank einiger Wolken realisierten wir hier mit der A6300 unseren ersten Zeitraffer – zuvor war die Idee aufgrund des eher mäßig spannenden blauen Himmels von uns immer wieder verworfen worden.

Das Radarsystem Duga ist riesig und wurde damals zur Früherkennung von amerikanischen Raketen genutzt. Heute lassen sich dort nur noch interessierte Touristen finden.

Auch die umliegende verlassene Militäreinrichtung sowie das angrenzende Wohngebiet der Arbeiter besuchten wir und fühlten uns dabei sehr an Pripjat erinnert, denn auch hier fanden wir eher einen Wald vor, der in unregelmäßigen Abständen von Gebäuden gespickt war. Zum Abend fuhren wir schließlich zurück in unser Chernobyl-Hotel und ließen den zweiten Tag bei einem Drehschluss... äh... Feierabendbier revue passieren. Dazu setzten wir uns etwas abseits vor das Hotel. Neben dem eigentlichen Besuch des AKWs nenne ich diesen Abend auch gerne als Highlight des gesamten Trips. Es war schon ein seltsames Gefühl innerhalb der Sperrzone von Tschernobyl auf einen Stück Gras zu sitzen, neben sich einen streunenden Hund liegen zu haben (wir haben ihn liebevoll Harro getauft) und die einsetzende Dunkelheit abzuwarten, während man sich über die sehr ungewöhnlichen Erlebnisse des Tages unterhält. Pünktlich um 22 Uhr hörten wir, wie die wenigen anderen Hotelgäste das Gebäude betraten und auch wir erinnerten uns an die Sperrstunde. Tatsächlich war die Dame des Hotels gerade dabei die Türe abzuschließen, doch im letzten Moment erblickte sie uns und ließ uns eintreten. Da hätten wir fast noch eine Nacht im Freien verbracht - nach dem Erlebnis mit den heulenden Hunden in der Nacht zuvor wollten wir das doch lieber vermeiden...
Ein Riesenrad bewegt sich im Wind
So begann nun tatsächlich unser dritter und letzter Tag in der Sperrzone. Nach einem weiteren eireichen Frühstück mit dem gewohnten Rhabarbersaft ging es erneut nach Pripjat, um die Stadt weiter zu erkunden. Nicht oft freue ich mich über Regen und schlechtes Wetter, doch nachdem die ersten beiden Tage sehr heiß und der Himmel ein durchgängiges blau war, hieß ich die grauen Regenwolken mehr als willkommen. Am dritten Tag kannten wir uns mittlerweile recht gut in der Zone aus und wir hatten schon einige neue Gewohnheiten erlernt. Dazu gehörte der regelmäßige Blick auf den Geigerzähler und das Abschätzen, ob ein Gebiet betretbar war oder nicht. Wir begannen den heutigen Tag im Stadtzentrum und bestiegen dazu ein Gebäude, das uns einen guten Blick gewährte. Hier oben lernten wir das schlechte Wetter besonders zu schätzen, denn die Blätter der unzähligen Bäume wehten im Wind und dicke Wolken zogen über den Himmel. Die Atmosphäre, an diesem Tag durch Pripjat zu laufen, war nochmals intensiver als am Vortag. Von dem Gebäude, auf dem wir standen, hatten wir einen fantastischen Blick auf das Stadtzentrum, das durch stark betonierten Boden noch nicht allzu viele Bäume hervorgebracht hatte. Hier sahen wir auch das Kulturzentrum der Stadt. Jonas machte mich auf eine unauffällige Metallstruktur im seitlichen Hintergrund aufmerksam und ich erkannte das Riesenrad. Der Vergnügungspark von Pripjat, der einige Tage nach dem Unglück ursprünglich eröffnet werden sollte, war nicht fern. Interessanterweise fand ich hier oben einige Patronenhülsen (vermutlich von Kalaschnikovs, wie ich später ergooglelte). Helga hatte uns schon zuvor erklärt, dass die ukrainische Armee einmal im Jahr die Zone als Trainingsgebiet nutzt, weshalb auch immer wieder Einschusslöcher zu finden sind.

Der Kulturpalast im Herzen von Pripjat stellt das Zentrum der Arbeiterstadt dar. Einer der wenigen Orte in Pripjat, der noch nicht völlig zugewuchert ist.

Nach einigen atmosphärischen Aufnahmen und Zeitraffern verließen wir das Dach und erkundeten den Stadtkern. Das Kulturzentrum kannte ich bereits von verschiedenen Bildern und es war beeindruckend dieses zu durchstreifen. Eines meiner Highlights an diesem Tag war das Einkaufszentrum, in dem noch immer zahlreiche verrostete Einkaufswagen zu finden sind. Hier trennten Jonas und ich uns für rund 15 Minuten und erkundeten die Stockwerke einzeln und ein ganz seltsames Gefühl machte sich in mir breit. Ich hörte nichts um mich herum, bis auf die Natur und meine Schritte, wusste quasi nicht, was hinter der nächsten Ecke lauerte – eine wahnsinnig intensive Erfahrung, die so in einer größeren Gruppe niemals zustande gekommen wäre. Ich bewegte mich weiter nach oben und fand sogar den Zugang zum Dach. Auch hier fühlte ich wieder dieses eigenartige Gefühl von Unsicherheit und gleichzeitigem Erkundungsdrang. Der Geigerzähler meldete sich erneut und verkündete Werte im Bereich von einem Microsievert/h. Gespenstisch, hier alleine auf einem Dach in Pripjat zu stehen und nur das Rauschen der Bäume und das leise Ticken des Geigerzählers zu vernehmen. Ich zog diese Atomsphäre einige Minuten in mich auf und trat dann den Rückweg an, um auch Jonas den Zugang zum Dach zu zeigen.
Helga fragte uns, ob wir auch einmal einen größeren Keller erkunden möchten. Dem stimmten wir zu und plötzlich fanden wir uns in dem Zulieferungstunnel des Supermarkts wieder. Dieser lag im Untergrund und es war stockdunkel. Wir zückten unsere Taschenlampen und leuchteten den Weg durch den Tunnel und betraten immer wieder abzweigende Räume. In einem Raum lagen zahlreiche Gasmasken auf dem Boden und auch hier passte das Wort „gespenstisch“ wie die Faust aufs Auge. Gerne hätte ich noch weitere Keller erkundet, da ich es dort besonders interessant fand, doch das nächste Ziel sollte nicht minder spannend sein. Wir bewegten uns nun auf den Vergnügungspark zu, der sich neben dem bekannten Riesenrad auch durch einen Autoscooter und ein kleines Karussell auszeichnete. Jonas und mir hatte es vor allem das Riesenrad angetan und wir verbrachten einige Zeit damit Fotos zu schießen und Zeitraffer zu erstellen. Hier gelang mir eines meiner liebsten Fotos, das einen Autoscooter im Vordergrund und das Riesenrad im Hintergrund zeigte. An dieser Stelle sei auch einmal gesagt, dass wir, obwohl wir im Vorfeld echte Bedenken deswegen hatten, nur sehr wenige andere Touristen in der Zone sahen. Helga zeigte uns die Orte zu Tageszeiten, an denen nur wenige Menschen dort waren und in den allermeisten Fällen waren wir völlig allein – so auch am Riesenrad.

Wenige Tage nach dem Reaktorunglück sollte in Pripjat ein Vergnügungspark eröffnen und sogar die Attraktionen, wie ein Riesenrad und Autoscooter, waren bereits errichtet. Bis heute ist es jedoch nicht dazu gekommen.

Als nächstes führte uns Helga durch ein kleines Waldstück, bis wir im Hintergrund die Tribüne und an der Seite in die Höhe ragende Stadionlichter erblickten. Tatsächlich standen wir inmitten des Stadions von Pripjat, in dem damals Sportveranstaltungen ausgetragen wurden. Nur wenige Meter entfernt erstreckten sich gleich mehrere Tennisfelder. Anschließend zeigte Helge noch ein Gebäude, in dem damals musikalische Darbietungen stattgefunden haben. In einem Saal stand noch immer ein heruntergekommener Flügel. Dann war es Zeit für unsere letzte Station in der Tschernobyl-Sperrzone. Auf dem Weg dorthin hielten wir am Ortsschild von Pripjat und anschließend neben der sogenannten Bridge of Death. Dem Gerücht nach standen dort die Einwohner Pripjats während des Unglücks und beobachteten das Geschehen am Kraftwerk – und wurden währenddessen stark verstrahlt. Heute ist das AKW von der Brücke aus kaum noch zu sehen, da die Bäume dort enorm hochgewachsen sind. Wir machten uns schließlich zu unserer letzten Station auf, die etwas außerhalb lag. Neben einem Schrottplatz mit zahlreichen Fahrzeugen stand dort ein Bauwagen, der als Übernachtungsmöglichkeit der Stalker genutzt wird, die die Zone illegal und ohne Erlaubnis erkunden. Tatsächlich fanden sich dort mehrere leere Konservendosen sowie abgelegte Kleidung. Nach dem Besuch dieses Orts fuhren wir ein letztes Mal in unser Hotel in der Stadt Chernobyl und aßen zu Mittag, bevor wir den Heimweg nach Kiew antraten. Beim Verlassen der 30-Kilometer-Zone mussten wir durch eine Apparatur durchgehen, die maß, ob wir kontaminiert waren. Wir beide waren scheinbar strahlungsfrei und durften passieren. Tatsächlich ist es bisher nur extrem selten vorgekommen, dass Personen nicht auf Anhieb die Zone verlassen durften. In den wenigen Fällen, dass eine Kontaminierung festgestellt werden konnte, mussten dann etwa die Schuhe der Person zurückbleiben und die Rückfahrt nach Kiew durfte nur auf Socken angetreten werden. Zumindest wir behielten unsere Schuhe an und nach einer etwa zweistündigen Fahrt wurden wir am Hotel in Kiew abgesetzt, wo wir uns von Helga und unserem Fahrer verabschiedeten.
Tschernobyl – skurriles Fotoziel oder großes Freiluftmuseum?
Das war sie also. Die langgeplante Tschernobyl-Reise war beendet und in den Tagen nach der Rückkehr nach Köln machte ich mir viele Gedanken über das Erlebte, sprach mit Freunden und Familie über das Gesehene und zeigte auch recht offen das Rohmaterial herum, das meist mit beeindruckten Blicken aufgenommen wurde. Doch wie bewerte ich das Abenteuer nun einige Wochen später? Zunächst einmal war es die richtige Entscheidung diese ungewöhnliche Reise anzutreten. Im Nachhinein war es vor allem interessant mit sensationsgeilen Schlagzeilen unterschiedlicher Nachrichtenseiten und Tageszeitungen aufzuräumen und sich selbst ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Zwar ist es auch jetzt noch immer schwierig einzuschätzen, wie gefährlich der Aufenthalt wirklich für uns war und in wie weit etwa die aufgenommene Strahlung mit der Höhenstrahlung beim Fliegen verglichen werden kann. Andererseits hatten wir immer die verschiedenen Grenzwerte der Bundesagentur für Strahlenschutz im Blick und haben diese nicht annähernd erreicht – noch nicht einmal im Inneren des AKWs. Insoweit gehe ich aktuell davon aus, dass unser Aufenthalt gänzlich ungefährlich war – zumindest was die Strahlung anging. Weniger ungefährlich war es mit Sicherheit die maroden und einsturzgefährdeten Gebäude zu betreten. Ich erinnere mich an eine Situation bei der ehemaligen Feuerwehrwache, wo wir am Eingang des Feuerwehrturms standen und überlegten diesen über eine alte Eisentreppe zu erklimmen. Letztlich entschieden wir uns dagegen – unserer Sicherheit zum Schutz. Wer kann schon genau sagen, wann genau die Gebäude einstürzen oder Treppen, Böden und Leitern ihren Dienst versagen?

Tschernobyl ist ohne Zweifel ein geschichtsträchtiger Ort, der mit entsprechender Vorbereitung und der richtigen Einstellung Freiluftmuseum und Fotoschauplatz zugleich sein kann.

Zudem finde ich es interessant, wie Besucher vor Ort mit dem Erlebten und Gesehenen umgehen. Immer wieder hörte ich von Personengruppen, die sehr respektlos mit der Thematik umgehen und beispielsweise in der Zone pöbeln und sich nicht an die Regeln halten. Ich ziehe hier für mich eine sehr klare Linie und halte es bei einem Besuch für enorm wichtig, einen gewissen Respekt mitzubringen, ähnlich wie es beispielsweise bei einer Führung durch Auschwitz angemessen wäre, und im Hinterkopf zu behalten, was dort passiert ist und wie viele Menschen darunter gelitten haben. Meiner Meinung nach haben wir uns sehr angemessen verhalten. Zwar kamen wir mit der Intention nach Tschernobyl auch zahlreiche Fotos und Videos mit nach Hause zu bringen, trotzdem sollte uns das nicht daran hindern, ab und an inne zu halten, die Kamera zur Seite zu legen und die Umgebung einige Minuten auf sich wirken zu lassen und vielleicht sogar eine Lehre daraus zu ziehen, was in Tschernobyl vor 33 Jahren passiert ist. Dann halte ich es auch für in Ordnung sich über manche skurrilen Erlebnisse einen kleinen Spaß zu erlauben und mit großer Begeisterung das postapokalyptisch anmutende Areal nach guten Fotomotiven abzusuchen.
Technisch bin ich von unserem Material angetan und mag vor allem den Look, den Magic Lantern auf der 5D III erzeugt hat. Für ähnliche Trips würde ich allerdings in Zukunft einen variablen ND-Filter nutzen wollen, vom Canon 24-70 f4-Objektiv auf das 24-105mm f4er als „Immerdrauf“ umsteigen und zudem deutlich mehr Speicherkarten einpacken, um trotz der großen Raw-Aufnahmen auch längere Zeit „einfach mal draufhalten“ zu können. Es war zudem wie erwartet ein großer Vorteil noch eine zweite bediente Kamera vor Ort zu haben, die mithilfe des Einhand-Gimbals noch einmal deutlich abwechslungsreichere Aufnahmen erzeugt hat. In der Postproduktion wird sich nun zeigen, wie gut sich das Raw-Material von Magic Lantern mit den stark komprimierten MP4-Videos der Sony A6300 matchen lässt.
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